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Bodo Gaßmann

Wissenschaftliche Arbeit

Die moralische Subjektivität des Menschen
als conditio sine qua non für eine antikapitalistische Veränderung

Proletarische Revolutionen (…) kritisieren beständig
sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem
Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück,
um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-
gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten
 ihrer ersten Versuche. Marx (MEW 8, S. 118)

Inhalt

Einleitung:

Die Verleugnung der moralischen Subjektivität als Kennzeichen der antikapitalistischen Linken bis heute.
Gegen Kautsky, Lenin, Trotzki, Pannekoek, Hilferding, Korsch und die „Marxistischen Gruppen“

I. Teil: Die moralische Subjektivität des Menschen

1.  Das empirische Ich

2.  Das logische Ich

3.  Der freie Wille

4.  Das Moralgesetz

5.  Das moralische Ich

6. Nachtrag: Das moralische Ich heute

II. Teil: Die Präformierung der moralischen Subjektivität der Moderne
in der mittelalterlichen Philosophie Abaelards

1.  Historische Voraussetzungen: Die soziale Situation im 12. Jahrhundert

2.  Glauben und Vernunft, Autorität und Selbstdenken

3.  Die Entdeckung der menschlichen Subjektivität bei der Erkenntnis: Nominalismus

4.  Die Aufwertung der Körperlichkeit

5.  Der Grundgedanke der Ethik: Die innere Zustimmung

6.  Der moralische Maßstab von Abaelard, das Gewissen und die Tugendlehre

7.  Handlungen und Werke – gegen Einwände von Max Weber

8.  Moralität und Legalität

9.  Moral und Herrschaft

Anhang

Anmerkungen zum I. Teil

Anmerkungen zum II. Teil

Literatur

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1.  Einleitung:

     Die Verleugnung der moralischen Subjektivität als Kennzeichen der
     antikapitalistischen Linken bis heute

     Gegen Kautsky, Lenin, Trotzki, Pannekoek, Hilferding, Korsch und die „Marxistischen Gruppen“

Eine Bevölkerung, die ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen wollte, ist von den jeweils Herrschenden wegen ihrer Niveaulosigkeit und Unbildung beschimpft worden. Und tatsächlich kann eine sozialistische Bewegung nur in der Praxis Veränderungen bewirken, wenn wenigstens ihre Theorie den avancierten Stand der Vernunft entspricht. Nach der Zeit Hegels ist die Philosophie des Bürgertums selbst unter den Stand des avancierten Bewusstseins gesunken, weil es sich den „Sachzwängen“ der Kapitalakkumulation überlassen konnte und jede Idee, die darüber hinausging, als Ideologie denunzierte; und nach Marx ist die Gesellschaftstheorie der Arbeiterbewegung fasst in allen Ländern und Positionen im Niveau gesunken, weil bürgerliche Ideologeme, durch die Erfolge der Technik und Naturwissenschaft bedingt, in sie eingingen.

Dies wird besonders deutlich am moralischen Bewusstsein und der Moralität. Nach Kant ist „Moralität (…) das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben“ (Kant: G.M.S., S. 73 f./BA 85 f.) Auch Hegel bestimmt Moralität als „das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst“ (Hegel: Rechtsphilosophie, §112, Zusatz), „die Tat soll nur gelten, insofern sie innerlich von mir bestimmt, mein Vorsatz, meine Absicht war“ (a.a.O., § 110, Zusatz). Beim ersten Begründer der Moralität bedeutet sie die innere Zustimmung zu einer Handlung. Diese Moralität, „die bei Abaelard ihren ersten theoretischen Ausdruck, bei Kant ihre Vollendung, bei Hegel aber ihre spekulative Liquidation erfuhr“ (Mensching: Moralität, S. 432), wird in der Theorie der Arbeiterbewegung als idealistische Mystifikation entlarvt (Trotzky: Terrorismus, S. 40 f.), als „Produkt der höheren Geisterwelt“ (Kautsky: Ethik, S. 63) und „ metaphysischer Sündenfall“ (Kautsky: Staatssklaverei, S. 186) verspottet.

Ein Mensch aber, der keine Prinzipien hat, auf die er sein Handeln beziehen kann, ist abhängig von anderen, von Einflüsterungen der Propaganda, von „der Zentrifuge der Medienöffentlichkeit“ (Mensching), von der jeweils herrschenden Mode (und sei es eine revolutionäre), von den Schrullen seiner Fantasie und von seinen sinnlichen Impulsen. Er ist ein Sklave der Verhältnisse. (1)

Dagegen muss darauf hingewiesen werden, dass nur ein Handeln nach Prinzipien, die durch die Vernunft (das begriffliche Denkvermögen, das allen Menschen innewohnt) erhärtet sind, in der Praxis zu bezweckten Veränderungen führt. Sind aber die Prinzipien falsch, dann ist der Fehler größer als ein falsches Handeln ohne Prinzipien. Deshalb sind nur solche Prinzipien einsehbar und damit akzeptierbar, die dem höchsten Stand der Vernunft entsprechen.

Moralität und damit das reflektierende Selbstbewusstsein der Individuen sind nach Hegel Momente der Sittlichkeit (Familie, Gesellschaft, Staat) und gehen darin auf, weil er meinte, dass die „abstrakte Subjektivität des moralischen Selbstbewußtseins“ in der bestehenden Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft ihre Erfüllung gefunden habe, die Moralität des Individuums zum „Akzidenz“ der Substanz Sittlichkeit herabgesunken sei. (Hegel: Rechtsphilosophie, S. 145 §, Zusatz) Die Marxsche Kapitalanalyse hat jedoch gezeigt, dass die „Sittlichkeit“ sich als von einem entfremdeten Mechanismus beherrschte erweist, die „Sittlichkeit“ also keineswegs die Moralität in sich aufgehoben hat, sondern alle Akteure dieses Wirtschaftssystems zu bloßen Mitteln der Verwertung des Werts degradiert werden und die Verhältnisse deshalb das Gegenteil von Moralität oder Sittlichkeit sind. Denn der innere Bezug des Willens auf sich selbst als auf sein Moralbewusstsein, Gewissen, seine praktische Vernunft ist immer die Reflexion auf das Moralgesetz, das vorschriebt, keinen Menschen zum bloßen Mittel zu machen, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln.

„Wenn die Moralität, die Hegel als die ‚für sich in ihrer Eitelkeit verschwebende Subjektivität der reinen Gewissheit seiner selbst“ (l.c., § 141) bestimmt, in der Objektivität der Sittlichkeit untergeht, diese aber nicht als die wahrhafte Realisation des Guten gelten kann, so ist in dem Theorem das Ende der Moral und des reflektierenden Selbstbewußtseins antizipiert. Hegel konstruiert somit eine historische Tendenz, die nach ihm in Erscheinung trat, nachdem sie objektiv schon vorher wirksam war.“ (Mensching: Moralität, S. 426)

Dennoch haben auch die bestimmenden Theoretiker der Arbeiterbewegung Hegels Negation der Moralität übernommen, indem sie diese der „Sittlichkeit“, jetzt der einer Arbeiterbewegung gegen die Kapitaleigner, untergeordnet haben. Sie sind dadurch einer objektiven Tendenz der herrschaftlichen Gesellschaften gefolgt, die sie dem Anspruch nach meinten zu bekämpfen. „Die späte neuzeitliche Dekadenz der Moral und des sie tragenden Selbstbewusstseins sowie die dazu komplementäre Auflösung der Rechtsverhältnisse, von welcher einstweilen noch dahinsteht, ob sie unaufhaltsam ist, kehrt eine lange historische Entwicklung um, in der das reflektierende Selbstbewusstsein sich theoretisch und praktisch herausbildete.“ (A.a.O., S. 426)

Die Umkehrung zur Dehumanisierung ist auch Kennzeichen der traditionellen Arbeiterbewegung. Ihre Theoretiker gehen von dem falschen Schluss aus, der dann auch die Praxis bestimmte: Das Kapital versucht alle Lebensbereiche der Lohnabhängigen zu dominieren, um sie immer effektiver ausbeuten zu können. Da die Lohnabhängigen gegen das Kapital nur Macht entfalten können, wenn sie sich zusammenschließen und gemeinsam agieren, so schlussfolgern die Theoretiker, ist der Einzelne an sich nichts, nur das Kollektiv zählt, dem es sich unterordnen muss. Dieser Schluss ist deshalb falsch, weil das Ziel der Arbeiterbewegung immer auch die Emanzipation der Arbeiter als Individuum war und ist. Eine Emanzipation eines Kollektivs ohne die Emanzipation der Individuen ist aber bloß eine Befreiung für die Arbeiterführer, die ihr Kollektiv zu einem bloßen Mitteln für ihre Machtsteigerung degradieren, es benutzen wie Chefs in der Fabrik. Die Masse der Arbeiter hat dies auch gespürt und zum Grund genommen, sich innerlich von einer solchen entfremdeten Arbeiterbewegung zu verabschieden. Positiv gesprochen kann ein Zusammenschluss zu einem Kollektiv gegen das Kapital nur an dem emanzipativen Ziel festhalten und überhaupt auf Dauer bestehen, wenn dieser Zusammenschluss aus Einsicht und aus freiem Entschluss (Solidarität) erfolgt, nicht aber aufgrund von Propaganda, undurchsichtiger Partei- oder Gewerkschaftsdisziplin oder falscher Theorie.

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Zum Beleg für die Amoralität der Gesellschaftstheorie der Arbeiterbewegung hier einige Beispiele:

Für den philosophischen Problemen unverständlich gegenüberstehenden Kautsky ist Würde „ein Stück einer übersinnlichen Welt“, die der Atheist Kautsky sich nur als „christliche Begründung“, „daß wir alle Kinder Gottes sind“, vorstellen kann (Ethik, S. 35). Das Sittengesetz (nach Kant) ist ihm nur ein „tierischer Trieb“ zur „Selbsterhaltung“ (a.a.O., s. 63). Moral reduziert sich bei Kautsky auf die sozialen Triebe im Klassenkampf (vgl. S. 119). „Das sittliche Ideal ist nichts als der Komplex der Wünsche und Bestrebungen, die durch den Gegensatz zum bestehenden Zustand hervorgerufen werden. Es ist als Triebkraft des Klassenkampfes, als Mittel, die Kräfte der aufstrebenden Klassen zum Kampfe gegen das Bestehende zusammenzufassen und anzustacheln, ein mächtiger Hebel zur Überwindung dieses Bestehenden.“ (A.a.O., S. 138 f.) So wie die Moral zum bloßen Mittel gemacht wird, so auch das Individuum in der sozialistischen Bewegung und schließlich in der klassenlosen Gesellschaft. „Das Individuum ist der Gesellschaft gegenüber so nichtig, daß es gar nicht die Kraft hat, ihrer einmütigen (!) Stimme zu trotzen. Diese wirkt völlig erdrückend, so daß es da weiterer Zwangs- und Strafmittel nicht bedarf, um den ungestörten Verlauf des gesellschaftlichen Lebens zu sichern.“ (A.a.O., S. 131)

Auch für Lenin, der viel von Kautsky übernommen hat, insbesondere dessen fatalen historischen Determinismus, ist Moralität kein Problem, Moral ein bloßes Mittel und seine revolutionäre Theorie enthält „auch nicht ein Gran Ethik“ (Lenin, zitiert nach Studientexte, S. 37/LW 1/436). Moral – wenn sie denn nötig ist - reduziert sich auf die Nützlichkeit im Klassenkampf. „Wir sagen, daß unsere Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist. Unsere Sittlichkeit ist von den Interessen des proletarischen Klassenkampfes abgeleitet … Für uns gibt es keine Sittlichkeit außerhalb der menschlichen Gesellschaft, das ist Betrug … Die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit ist der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kommunismus. (A.a.O., S. 239/LW 31/281 ff.)

Ist es nützlich nach den Maßstäben der Strategie und Taktik der Partei, die eigenen Klientel zu belügen und zu täuschen, also ihre Moralität mit Füßen zu treten, dann ist dies ohne Skrupel erlaubt. So rechtfertigt Trotzky mit Lenin selbst die Täuschung seiner Genossen. „Lenin sagt: ‚Man muß es verstehen … zu allen möglichen Listen, Kniffen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit zu sein, um nur in die Gewerkschaften einzudringen, in ihnen zu bleiben und dort um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.’“ (Trotzky: Moral, S. 41) Mögen manche Handlungen durch die Umstände erzwungen sein – Trotzky führt die illegale Arbeit gegen den Faschismus an -, so ist die umstandslose Rechtfertigung des Gegenteils von Moralität, die es für Trotzky bestenfalls jenseits der Klassengesellschaft geben kann (vgl. a.a.O., S. 33), die Ausschaltung der moralischen Dimension des Handelns. Stattdessen fällt auch bei Trotzky Moral und Parteidisziplin zusammen. „Für einen revolutionären Marxisten kann es zwischen der persönlichen Moral und den Interessen der Partei keinen Widerspruch geben, da in seinem Bewusstsein die Partei die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpert.“ (A.a.O., S. 43) Daß sie „die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpert“ ohne eine philosophische Grundlage auf dem avancierten Stand der Vernunft war die große Illusion der Bolschewiki, die letztlich nach dem Scheitern dieser Revolution alle Opfer als wertlos erscheinen lässt. Hätte sie aber eine solche geistige Grundlage gehabt, dann hätte diese die Dimension der Moralität einschließen müssen.

Moralität bedeutet immer auch eine innere Hemmung, Skrupel, bestimmte Dinge zu tun oder nicht zu tun. Fehlt diese – und bei Trotzky wird sie systematisch wegrationalisiert -, dann ist jede Scheußlichkeit erlaubt, wenn sie nützt. „Bürgerkrieg ist der grausamste aller Kriege. Er ist unter den heutigen Bedingungen der Technik nicht nur ohne Gewalt gegen Unbeteiligte, sondern selbst ohne Mord an Greisen und Kindern unvorstellbar. (…) Aber diese vollkommen richtige  Antwort bedeutet nur, daß der Zweck (Demokratie oder Sozialismus) unter gewissen Bedingungen solche Mittel wie Gewalt und Mord heiligt. Von Lügen gar nicht zu reden! Ein Krieg ohne Lügen ist ebenso unvorstellbar wie eine Maschine ohne Öl.“ (A.a.O., S. 32 f.)

Auch Theoretiker, die den sozialdemokratischen Parteiideologen wie der bolschewistischen Fraktion der Arbeiterbewegung kritisch gegenüberstanden wie Pannekoek hatten kein Gespür für die Rolle der Moralität. „die Anschauungen der Menschen werden bedingt durch die Verhältnisse, unter denen sie leben, also in erster Linie durch die besondere Lage und die Lebensumstände der Klasse, der sie angehören. Überall wird dasjenige als gut oder böse angesehen werden, was dem Interesse der Kasse nutzt, oder ihm schadet.“ (Ethik und Sozialismus, S. 9) Auch ihm gilt ein autonomes Individuum, das rational seine Handlungen am allgemeinen Moralgesetz prüft, als nichtiges. „Für das Proletariat gilt als erste Tugend alles, was zu seinem Befreiungskampfe nötig und förderlich ist: Solidarität, die Unterordnung der Person unter die Organisation, freiwillige Disziplin, Freiheitsdrang und Widerspenstigkeit und Hingabe an das Klasseninteresse.“ (A.a.O., S. 10, Hervorhebung von mir)

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Pannekoek geht aber noch weiter, indem er dem prinzipiellen Denken an sich, nicht falschen Prinzipien, die Schuld an den Niederlagen der Arbeiterklasse seit 1914 gibt. „Es liegt im Wesen des menschlichen Geistes, der aus der Erfahrung eines bestimmten Teils der Wirklichkeit gefundenen (?) allgemeinen Wahrheit oder dem, was in bestimmten Zeitverhältnissen als durchgehend zweckmäßig und gut erkannt wurde, eine absolut allgemeine Gültigkeit, immer und überall, zuzuerkennen. Der Geist ist das Organ der Allgemeinheit; aus der Vielzahl und Wirrnis der Erscheinungen sucht er die Regel, das Allgemeine, das Wesentliche, das sein Handeln bestimmt. Vergißt er dabei die Beschränktheit seiner Erfahrung, will er die Regel darüber hinaus anwenden, so verfällt er dem Irrtum, und die Wirklichkeit klopft ihm oft empfindlich auf die Finger. (Arbeiterräte, S. 290) Empiristisch, wie Pannekoek meint, lässt sich die Wirklichkeit schon lange nicht mehr begreifen. Im Übrigen verwendet er Prinzipien, die seit 2500 Jahren gelten, nämlich die der Logik. Was Pannekoeg sagt, stimmt bestenfalls für die unmittelbare Taktik der Arbeiterbewegung. Die Erfahrung, auf die er sich beruft, hat aber faktisch die Arbeiter an der kapitalistische System geschweißt, von dem ihre materielle Existenz unmittelbar abhängt, anstatt sie - trotz zweier Weltkriege - zu revolutionären Aktionen zu treiben. (Vgl. unten: „Das moralische Ich“)

Weitere Belege für die Amoralität der Theorie der Arbeiterbewegung finden sich bei Hilferding und Korsch. So schreibt Hilferding: "Wie die Theorie, so bleibt auch die Politik des Marxismus frei von Werturteilen.“ (Zitiert nach Korsch: Marxismus, S. 102) Und auch Korsch, auf den sich die Studentenbewegung in den 60er Jahren berief, lehnt Moralität ab, indem er – übrigens ohne immanente Widerlegung, rein denunziatorisch – „die Idee einer reinen Gesetzgebung der Vernunft vermittels (?) des kategorischen Imperativs“ als „’Substitut’-Vorstellungen, die die aufklärerische und später die kritisch-idealistische Philosophie an die Stelle jener religiösen Vorstellungen gesetzt hat“ (a.a.O., S. 156) als irrational kritisiert. (2)

Heute sind es vor allem die „Marxistischen Gruppen“, die systematisch in ihren Schriften die Moralität denunzieren, indem sie diese mit der moralischen Heuchelei der Fanatiker des Marktes und dem üblichen Moralisieren identifizieren. Stattdessen unterstellen sie moralisch einen kruden Utilitarismus und beleidigen so ihre Vernunft, die sie für die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse aufbringen. Ihr „Gegenstandpunkt“ wendet sich zu recht gegen das alltägliche Moralisieren, bei dem „sachfremd und opportunistisch Auswahl und Anwendung der Maßstäbe ausfallen“ (Nr. 1-95, S. 7). Mit dieser Kritik wird aber Moral per se, also auch die autonome Moral des Kantischen Imperativs in den Geistesmüll gekehrt. Da jeder Gedanke missbrauchbar ist, dürfte man nach ihrer Argumentation überhaupt nicht mehr denken. Sie loben Hegel, weil er entgegen den heutigen „Moralwachteln“,  „Gewissenswürmern“ und „alternativen Moralisten“ die Funktion der Moral erkannt habe: „Die moralische Gesinnung war für den Liebhaber des bürgerlichen Staates die Gewähr dafür, daß dessen Bürger das Gesetz und die von ihm ausgehende Macht nicht als äußerlichen Zwang hinnehmen“, sondern innerlich anerkennen und akzeptieren, also sich mit dem bürgerlichen Staat identifizieren. (A.a.O., S. 189) Die spekulative Überwindung der Moralität durch Hegel wird bei ihnen gefeiert und zur Affirmation der objektiven Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft, von der sie nur das Oberflächenphänomen der moralischen Heuchelei wahrnehmen. Die Tatsache, dass Kant, Fichte u.a. noch nicht Marx gelesen haben, also noch dachten, man könne über Erziehung und Aufklärung das Moralgesetz in der bürgerlichen Gesellschaft etablieren, gipfelt wie bei den heutigen Positivisten in dem Vorwurf, sie hätten „Moral gepredigt“ und würden zu Unrecht als „’Aufklärer’ verehrt“ (a.a.O., S. 185). Auch die zitierte Kritik von Hegel an der Moralität, dass sie „immerzu auf den Sprung ist, ins Böse umzuschlagen“ (d.h. in radikale Gesellschaftskritik) gibt ihnen nicht zu denken, da sie jeden allgemeinen Maßstab der Kritik ablehnen und nur das partikulare Interesse akzeptieren.

Selbstverständlich geht es mir nicht um ein Moralisieren oder die Reduktion der Kritik am Kapitalismus auf moralische. Die Lohnabhängigen, denen der Klassenkampf von oben aufgezwungen wird, müssen sich grundsätzlich wehren, wollen sie nicht untergehen. Die Maximen des Klassenkampfes, Streiks und einige andere Aktionsformen lassen sich nicht nach dem Moralgesetz verallgemeinern (siehe unten: Moralgesetz). Sie sind wie die Herrschaft des Kapitals unmoralisch. Wird Moral aber grundsätzlich als „Moralsausdünstungen“ (Trotzky: Moral, S. 5), als metaphysische Schrullen oder gar als göttliche Normen verhöhnt, dann hat die Bewegung wie die Individuen in ihr keinen Vernunftmaßstab mehr, der ihren Klassenkampf begrenzt und relativiert, dann ist jede Schändlichkeit erlaubt, wenn sie nützt, dann gilt: „In einer Gesellschaft, die solcherart jenseits von Gut und Böse ist, wird jede Monstrosität möglich, die nach dem Stand der Produktivkräfte wirklich werden kann“ (Mensching: Moralität, S. 432). Das gilt nicht nur für den Faschismus und den demokratischen Imperialismus, sondern auch für den bürokratischen Kollektivismus mit seinem Höhepunkt der Amoralität im sogenannten Stalinismus. (3)

Gegen die Amoralität der bisherigen Arbeiterbewegung (nicht aller Einzelnen) und ihrer Theoretiker setzen die Erinnyen auf die Wiederherstellung der moralischen Dimension als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft. Diese moralische Dimension gilt es nun zu begründen.

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Weiter zu: Das empirische Ich

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Letzte Aktualisierung:  10.09.2009