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Des Kaisers neue Kleider
Die neurophysiologische Biologisierung der Gesellschaft

Über:
Christine Zunke: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2009 (Akademie Verlag).

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Der Angriff des Staates auf die personale Identität

Über:
Dominic Streatfeild: Gehirnwäsche. Die geheime Geschichte der Gedankenkontrolle. Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos, Ffm. 2008. (Zweitausendeins)

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Des Kaisers neue Kleider
Die neurophysiologische Biologisierung der Gesellschaft

Über:
Christine Zunke: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2009 (Akademie Verlag).

Inhalt

Einleitung

Freiheit ist nicht empirisch nachweisbar

Freiheit des Bewusstseins als Freiheitsgefühl (gegen Habermas)

Die absolute Freiheit als notwendige Bedingung rationaler Erkenntnisse

Determinismus-These der Hirnforschung

Die Erste-Person- und die Dritte-Person-Perspektive


Das „Menschenbild“ der Hirnforscher

Die Ideologie der Hirnforschung

Konsequenzen für die Moral

Aporien des reduktiven Physikalismus und dualistischen Idealismus

Das wahre Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein

= = = = = = = = = = =

Einleitung

Es gibt inzwischen einige Bücher, welche die heutige Hirnforschung kritisieren. So etwa das Buch von Cechura, das wir in unserem Film über die 13. Linke Literaturmesse vorgestellt haben und das den Schwerpunkt auf die Ideologiekritik legt. Mit dem Werk von Christine Zunke liegt aber nun ein philosophisches Werk vor, das gründlich die Hirnforschung philosophisch auseinander nimmt und nach der immanenten Kritik von deren Theoremen ihre ideologische Funktion nachweist. Die Autorin bezieht sich auf den avancierten Stand der Vernunft, der nicht ohne die Reflexion der kantischen und der hegelschen Philosophie auskommt. Allerdings sind die bekannten Vertreter der Hirnforschung inzwischen soweit auf den theoretischen Hund gekommen, dass sie noch nicht einmal mehr den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch für ihre Thesen beachten. Sie sind derart in ihrem falschen Denken verstrickt, dass die Kenntnis der philosophischen Tradition nur stören kann – auch wenn etwa in der Philosophie d’Holbachs schon einmal, allerdings unter völlig anderen Umständen, ein Physikalismus des Denkens vertreten wurde, aber eben auch von den Zeitgenossen und den Nachfolgern der Aufklärung in Deutschland von Kant bis Hegel widerlegt wurde.

Kein Zweifel, Hirnforschung ist legitim und notwendig (Zunke, S. 209). Und kein Zweifel, es gibt seriöse Hirnforscher, die sich auf die naturwissenschaftliche Seite des Gehirns konzentrieren und ihre Resultate nicht unzulässig verallgemeinern, sich also nicht als Amateurphilosophen aufspreizen und nicht weit hinter dem avancierten Stand der Vernunft zurückfallen und ihre Resultate nicht ideologisieren. Da die Hirnforschung sich aber inzwischen als „Leitwissenschaft“ für die anderen Wissenschaften aufspreizt, weil jeder Wissenschaftler auf sein Gehirn angewiesen ist (wie einst die Sprachwissenschaft nach dem „linguistic turn“ meinte, die Philosophie ablösen zu können, weil auch diese die Sprache benutzt), so ist eine Kritik der ganzen Richtung, insofern sie die Öffentlichkeit beherrscht, notwendig. Konkret werden die Auffassungen von Singer, Roth, Bieri, aber auch von Habermas und anderen kritisiert, die ideologische Funktion der Naturalisierung und Biologisierung kultureller Phänomene aufgedeckt und die jeder Wissenschaft vorausgesetzte Freiheit des vernünftigen Denkens dagegen gesetzt. Christine Zunke legt mit ihrem Buch ein Standardwerk zur Kritik der gegenwärtigen Hirnforschung vor. Sie zeigt, wie philosophische Kritik gehen muss, um der Tendenz zur Pseudowissenschaft und Ideologieproduktion entgegenzuwirken.

Zunke Titelbild

Das Werk ist in zwölf Kapitel eingeteilt, in denen nicht nur die gängigen Theorien der Hirnforscher kritisch beleuchtet werden, sondern ebenfalls verwandte wissenschaftliche Richtungen wie etwa die Neuropsychologie, die Neuroepistemologie, das „Menschenbild“, das der Behaviorismus und die Verhaltensforschung zu Grunde legen und das von den Hirnforschern übernommen und modifiziert wird. Allen gemeinsam ist die Biologisierung des menschlichen Geistes und die Produktion von ideologischem Bewusstsein, das Zunke nach der Aufdeckung der Widersprüchlichkeit dieser Theorien nachweist.

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Freiheit ist nicht empirisch nachweisbar

Die Autorin beginnt ihre Kritik mit dem Aufweis, dass sich die Freiheit des Denkens und des Willens nicht empirisch nachweisen lasse. Diesem Irrtum, Freiheit empirisch beweisen oder widerlegen zu wollen, verfällt auch die Interpretation des Experiments von Libet (die Erinnyen haben sich damit schon auseinandergesetzt, vgl. auch das Kapitel 7 bei Zunke). Naturphänomene unterliegen den Naturgesetzen, können also nicht frei sein, ebenso ist der Zufall keine Freiheit, sondern Freiheit ist eine Bestimmung der Vernunft und wird allen empirischen Forschungen in Form des Bewusstseins der Naturwissenschaftler  immer schon vorausgesetzt. Zunke bestimmt sie so: „Freiheit ist keine Gegenmacht, keine Kraft, die in Raum und Zeit gegen die Naturgesetze wirken können soll. Sie ist vielmehr in dem menschlichen Vermögen, erkannte Naturgesetze zielgerichtet zu nutzen, um innerhalb der Natur gemäß ihren erkannten Gesetzen diese nach selbst gesetzten Zwecken zu formen. Das Setzen eigener Zwecke ist es, was nicht in der Natur aufgeht, sondern auf die menschliche Vernunft verweist.“ (S. 21) Wenn die Hirnforschung im Gehirn keine Freiheit findet und im Libet-Experiment das Gehirn schon vor einem spontanen Entschluss aktiv ist (was einigen Hirnforschern als Beweis gegen den freien Willen gilt), dann gibt Zunke den Hirnforschern insofern recht, als es tatsächlich keinen empirischen Beweis geben kann. Freiheit existiert aber dennoch, weil man sie aus der zweckmäßigen Tätigkeit des Menschen erschließen kann. Die Hirnforscher haben einen Begriff von Freiheit, der nicht mit dem der Philosophie übereinstimmt.

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Freiheit des Bewusstseins als Freiheitsgefühl (gegen Habermas)

In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch Habermas, der von einer „naturbedingten Freiheit“ spricht (S. 23). Dies ist unakzeptabel, weil Freiheit dadurch zur bloßen Empfindung wird, also wieder etwas Naturbestimmtes. Es entsteht bei ihm das Paradox, dass „ich mich selbst als Objekt wahrnehmen muss, um mich als Subjekt zu wissen“ (S. 24). Während bei dem Hirnforscher Roth Freiheit nur eine Illusion ist, die das Gehirn in uns erzeugt, ist bei Habermas die empfundene Freiheit ihre tatsächliche Form (25). Gegen Roth und Habermas hält Zunke an einem Begriff von Freiheit fest, der absolut, also bedingungslos, gedacht werden muss. Anhand der kantischen Kategorienlehre weist die Autorin nach, dass es keine wahren Erkenntnisse, keine Subjektivität gäbe, ohne ein Moment von absoluter Freiheit im Bewusstsein.

Gegen das Einschrumpfen der Freiheit auf Wahrnehmung bei Habermas wendet Zunke ein: „Weil ohne Freiheit kein Subjekt wäre, beweist Subjektivität Freiheit – die Freiheit entspringt nicht umgekehrt der Subjektivität. Nicht die heteronomen Bedingungen des Subjekts bedingen die Freiheit, sondern die Freiheit bedingt das Subjekt, das sich dann als empirisches unter heteronomen Bedingungen findet.“ (S. 27) 

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Die absolute Freiheit als notwendige Bedingung rationaler Erkenntnisse

Wissenschaft, ebenso wie die Naturwissenschaften Physik, Chemie und Biologie, die Psychologie und die Hirnforschung besteht aus Urteilen und ihre Verknüpfung durch Schlüsse. Verbindungen von Subjekt und Prädikat im Urteil oder von zwei Urteilen, aus dem ein drittes im Schluss folgt, lassen sich nicht empirisch beobachten, sondern sind von Verstand und Vernunft produziert. Diese logischen Formen (auch wenn man sie formalistisch als Klassen von Elementen deutet) stehen unter den Kategorien wie Einzelheit, Allgemeinheit, Relation, Substanz usw., Kategorien, die das Bewusstsein aus seiner Selbsttätigkeit erschlossen hat, die also zu seinem wissenschaftlichen Selbstbewusstsein gehören. Dieses ist nur rational als einheitliches, sodass also mit Kant gesprochen alles unter der Einheit der Apperzeption steht – sonst wäre unser Bewusstsein „weniger als ein Traum“ (Kant: Kr.d.r.V., A 112). Die logischen Formen und die Kategorien sind ohne ein Moment von absoluter Spontaneität des Denkens, d.h. ursprungslos (in naturwissenschaftlicher Bedeutung), weil als Kausalität aus Freiheit, nicht zu denken. Die Tatsache, dass wir sie denken, damit Wissenschaft erzeugen, die zur Bedingung der Möglichkeit unserer heutigen Existenz geworden ist, stellt den Beweis dar, dass unser Bewusstsein frei ist und ebenso der Wille, der das innere wissenschaftliche Denken bestimmt, ein absolut freier sein muss.

Diese Argumentation ist nicht neu, sie findet sich schon bei Kant, auf den sich Zunke auch explizit beruft, neu bei Zunke aber ist die konsequente Anwendung der Einsichten von Kant und auch Hegel auf das falsche Bewusstsein Habermas’ und der Hirnforscher.

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Determinismus-These der Hirnforschung

Nach Ansicht der meisten Hirnforscher kann es keinen freien Willen geben. Roth sieht den freien Willen als Illusion, die unser Gehirn uns vorgaukelt, damit wir besser in der Umwelt überleben können. Tatsächlich aber wäre unser Gehirn dasjenige, was uns steuert, ob wir wollen oder nicht. Singer geht noch einen Schritt weiter und wendet diesen Gedanken auf die Gesellschaft an, die demnach ein neues Rechtssystem bräuchte, da von individueller Schuld nicht mehr gesprochen werden könnte. Zwar müsse man weiterhin Verbrecher einsperren, um die Gesellschaft zu schützen, aber nicht weil diese Schuld auf sich geladen hätten, sondern um ihre Nervenbahnen im Gehirn umzukanalisieren oder neue zu erzeugen, die ein nichtkriminelles Verhalten zur Folge hätten.

 Bei all diesen wilden Spekulationen von Singer und Roth, wird das Gehirn, also ein Gegenstand der Naturwissenschaften, als das Erzeugende des Geistigen (als Illusion) behauptet, zugleich soll das Gehirn selbst aber auch nicht das Subjekt des Geistes, sondern selbst determiniert sein. „Der ‚distributiv organisierte Wettbewerb’, in dem die Erregungsmuster spezifischer Verschaltungen sich gemäß einer naturgesetzlichen Ordnung bewegen und in spezifischen Reaktionen des menschlichen Organismus resultieren, wird unvermittelt zu ‚dem Gehirn’, das ‚Prioritäten auch selbst’ und ‚oft unbewußt’ setzen kann. Dies ist kein sich wiederholender Flüchtigkeitsfehler Singers und auch nicht auf sprachliche Ungenauigkeit zurückzuführen. Vielmehr verweist dies auf einen Widerspruch, in den Singers Theorie (und die vieler anderer Neurobiologen) unweigerlich führen muss; denn das als mit den bekannten Naturgesetzen unvereinbar identifizierte übergeordnete Subjekt ermöglicht erst die objektive Naturerkenntnis, welche Singers Theorie zugrunde liegt.“ (S. 49) Dieses übergeordnete Subjekt wird aber zugleich geleugnet, was ein Grundwiderspruch der Neurobiologie ist.

Die Konsequenz aus dem Versuch, Bewusstsein auf naturkausale Prozesse im Gehirn zu reduzieren, führt zwangsläufig zur These von der Determiniertheit auch des Bewusstseins und Selbstbewusstseins des Menschen und damit auch das Abstreiten eines freien Willens. „Bewusste Gründe erscheinen bei Singer als ‚nachträgliche Rationalisierungen’ eines deterministischen Geschehens.“ (S. 51) Ähnlich argumentiert Roth, für den die Freiheit des Bewusstseins „ein funktionaler Schein“ ist, „der zur Motivation von bestimmten Handlungen diene“ (S. 88). Ein Bewusstsein aber, das determiniert ist, hätte in sich keine Möglichkeit auf das Verhältnis von Begriff und Sache, also auf die Wahrheit der Aussagen zu reflektieren, es könnte also auch gar nicht behaupten, dass die Aussage: Unser Bewusstsein ist determiniert, wahr ist. Roth ist immerhin so konsequent anzuerkennen, dass unser Bewusstsein als ein bloßes Konstrukt des Gehirns die objektive Realität nicht erkennen könne – was ihn aber nicht hindert, seinen Determinismus als objektive Erkenntnis zu verbreiten. Bereits seine Aussage, dass unser Gehirn uns täusche, setzt mit dem Begriff der Täuschung den der Wahrheit voraus. Er leugnet also wahre Aussagen und setzt sie zugleich voraus. Er verfällt dadurch der Kritik am Skeptizismus, die schon in der Antike bekannt war, „denn die These, es sei wahr, dass es keine Wahrheit gebe, ist notwendig widersprüchlich“ (S. 134).

Solche Widersprüche hindern die Hirnforschung allerdings nicht für ihre Pseudowissenschaft (diese ist sie, soweit sie sich nicht auf die Erforschung der natürlichen Funktionen des Gehirns beschränkt, sondern ihre Partikularwissenschaft zur Totalitätswissenschaft aufspreizt) Forschungsgelder und Lehrstühle zu verlangen. Dass sie diese auch von den Politikern zugeschoben bekommen, deutet auf die ideologische Funktion hin, die solche Thesen wie die von der Determiniertheit des Bewusstseins und der Leugnung des freien Willens haben.

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Die Erste-Person- und die Dritte-Person-Perspektive

Manche Widersprüche kann man lösen, indem man sie in einen Gegensatz aufteilt. Den Widerspruch zwischen materiellem Gehirn und Bewusstsein versucht die Hirnforschung zu lösen, indem sie zwischen der Ersten-Person- und der Dritten-Person-Perspektive unterscheidet, also der Innenperspektive, die nur dem jeweiligen Ich zugänglich ist, das  Gegenstand der Psychologie ist, und der Außenperspektive auf das Gehirn, wie es Gegenstand der Neurophysiologie ist. Doch diese Unterscheidung führt nicht nur zu einem naiven Realismus, sie verstößt nicht nur gegen die Einheit des Bewusstseins als Voraussetzung aller Erkenntnisse, sondern auf diesem argumentativen Trick beruht ein weiterer Kardinalfehler der Neurophysiologie: Die Korrelation zwischen Gehirn und Bewusstsein ist nur vom Bewusstsein her bestimmbar, obwohl es das abgeleitete sein soll. So will die Hirnforschung z.B. Krankheiten heilen, aber welches limbische System als krankhaft gilt und welches als gesund, lässt sich nur aus der Erste-Person-Perspektive erkennen, die doch nur eine Illusion sein soll, die das Gehirn erzeugt. Im Übrigen ist die sogenannte „Dritte-Person-Perspektive“ selbst nur eine der Ersten Person, da wissenschaftliche Aussagen nicht einfach empirisch vorliegen, sondern immer erschlossen bzw. Verallgemeinerungen sind.

„In der Trennung in die Erste- und die Dritte-Person-Perspektive zerfallen Subjektivität und Objektivität zu zwei unvermittelbar getrennte Sphären. Damit wird nicht nur der Psychologie de facto der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abgesprochen, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis selbst wird vom empirischen Subjekt abgekoppelt, ohne dass ein Begriff entwickelt werden könnte, auf den sich die Objektivität der Erkenntnis gründen ließe.“ (S. 108) Kein Hirnforscher hat bisher im Gehirn Kategorien, logische Formen, Begriffe oder auch nur eine Vorstellung gefunden – und doch soll wunderbarerweise das Gehirn als materielles Gebilde diese Bestimmungen jeder Wissenschaft erzeugen. Wer das Wunder glaubt, wird im wissenschaftlichen Mainstream selig.

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Das „Menschenbild“ der Hirnforscher

Dem Physikalismus und Biologismus der Hirnforschung liegt ein bestimmtes „Menschenbild“ zugrunde: Das Verhalten des Menschen sei durch die Natur und ihre Evolution festgelegt, unser Bewusstsein und der Wille seien unfrei und werden von dem Gehirn determiniert bzw. illusioniert, ohne dass dieses Gehirn als materielles Gebilde selbst Subjekt sein soll. Der Mensch könne sich nur in Demut der jeweiligen Gesellschaft anpassen (vgl. S. 63), so wie er sich der Natur anzupassen habe. Gesellschaft erscheint so als Natur, als ein „Produkt des Zusammenspiels vieler Gehirne“ (S. 63). Die Demutsgeste des „Menschenbildes“ – selbst ein Begriff, den die Hirnforschung verwendet – hält diese aber nicht davon ab, ihre technischen Machbarkeitsfantasien auszubreiten. Dabei setzt die Hirnforschung die Leistungsgesellschaft ebenso voraus, wie die Leistungsanforderungen der kapitalistischen Gesellschaft fraglos hingenommen werden, ohne nach deren Grund zu fragen. Im Gegenteil, solche Fragen nach sozialen Gründen werden abgebogen durch Verweis auf die Gehirntätigkeit. Die Hirnforschung bietet ihre Dienste an, durch „Neuro-Enhancement“ die Leistungsbereitschaft des einzelnen Gehirns mit teuren Behandlungen zu steigern, eine Behandlung, die allerdings den Glauben bei ihren Kunden an den Physikalismus, der sich noch dazu das Lernen ersparen will, voraussetzt. Der Mensch ist nach dieser „wissenschaftlichen“ Auffassung das, zu dem er im Kapitalismus tendenziell gemacht wird, kaum anderes als ein Hampelmann einer unbegriffenen Gesellschaft und ihrer blind wirkenden ökonomischen Gesetze.

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Die Ideologie der Hirnforschung

Dass konsequent die Zwänge des kapitalistischen Konkurrenzkampfes den einzelnen angelastet werden, versteht sich von selbst. Die Biologisierung der Subjekte verwischt die Grenzen zwischen Natur und Kultur, wie sie seit der Entstehung der Philosophie erkannt wurden und wie sie auch der bürgerlichen Gesellschaft mit der vorausgesetzten Freiheit der Bürger zugrunde gelegen haben und auf dem Papier der Verfassungsurkunden noch immer zugrunde liegen. „Wenn die Hirnforschung ihre Ergebnisse dahingehend interpretiert, zu sagen, der Mensch täusche sich über seine Freiheit, so ist dies zum einen falsch und zum anderen ideologisch. Indem sie ideologisch ist, unterliegt die These vom unfreien Willen nicht einem bloßen Irrtum, sondern enthält ein wahres Moment über die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft in verkehrter Gestalt, in diesem Fall in Gestalt der Naturalisierung eines gesellschaftlich hergestellten Zustands. Die Berufung der bürgerlichen Gesellschaft auf Freiheit dient dieser Gesellschaft in ihrer Konstitution als Legitimation von moderner Herrschaft. Darum ist die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft keine wahre Freiheit. Deswegen ist der Mensch jedoch kein unfreies Wesen, sondern deswegen ist diese Gesellschaftsform zu kritisieren.“ (S. 189) Der Gesellschaftskritik soll durch die Hirnforschung von vornherein die Legitimation entzogen werden.

„Die Leugnung der Willensfreiheit postuliert so die bestehenden Verhältnisse als einzig mögliche und darum richtige – und entzieht ihnen dabei zugleich ex post die wichtigsten Ingredienzien ihrer politischen Legitimation, indem sie ihre Entstehung faktisch als Naturgeschichte liest. Mit ihrer Biologisierung verlöscht die Möglichkeit, Gesellschaft zu begreifen und so ein Selbstbewusstsein der historischen Subjekte zu bilden. (…) Zugleich wird jedes politische Streben nach einer vernünftigen Gesellschaft als einer Realisierung der Freiheit jenseits von Herrschaft, ohne die Härte des Eigentums und der Verwertung des Werts, endgültig zum Kuriosum.“ (S. 188) Diese ideologische Konsequenz macht die Hirnforschung bei den affirmativen Politikern so beliebt.

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Konsequenzen für die Moral

Die Kritik der Fehler der Hirnforschung und die ideologische Funktion dieser Wissenschaft darf aber nicht wie bei der „Marxistischen Gruppe“ dazu führen, das „Allgemeine bloß als Mittel und die Vernunft bloß als Instrument zu begreifen“ (S. 179, Anm. 25), denn mit diesem rein instrumentellen Verhältnis zur Vernunft wird ebenso die menschliche Freiheit geleugnet und auf bloße Willkür reduziert. „Die Verkehrung der Freiheit besteht nun darin, dass der die Gesellschaft formierende Zweck im Kapitalismus in der Verwertung des Wertes besteht, und nicht im Menschen als Zweck an sich selbst. Damit steht der die partikularen Zwecke formierende Zweck den partikularen Zwecken gegenüber; denn in seiner Würde ist jeder Mensch sich selbst Zweck, wogegen die kapitalistische Produktionsweise ihn zum bloßen Mittel formiert. So zeigt sich das allgemeine Moment der Freiheit dem Einzelnen als ihm aufgeherrschter, heteronomer Zweck. Als empirisches Moment der Freiheit bleibt nur der eingeschränkte Zugriff der Willkür auf die produzierten Waren, d. i. die Freiheit des Konsumenten.“ (S. 178 f.) Das Allgemeine wie die Änderung der herrschaftlich verfassten Gesellschaft kann so nicht als Zweck erscheinen. Diesen Zweck können nur vernünftige Subjekte aus sich begründen und in ihrer politischen Praxis verwirklichen. Dass sie dies theoretisch können, liegt in ihrer Erkenntnisfähigkeit und ihrer Autonomie begründet. Deshalb gehört zur Wahrheit einer Erkenntnis und der Kritik falscher und ideologischer Theorien immer auch ein Subjekt, das moralisch bestimmt ist.

Während das „Menschenbild“ der Hirnforschung den Menschen auf seine naturalen Eigenschaften reduziert und ihn durch die Natur als determiniert denkt, setzt wahre Erkenntnis immer ein Unbedingtes im Bewusstsein voraus, das auch Grund für einen Begriff vom Menschen als eines moralischen Wesens ist. „Denn die Würde des Menschen ist weder eine Organeigenschaft des homo sapiens sapiens noch gründet sie in der empirischen Vernunft eines einzelnen Menschen, sondern Würde hat der Mensch, weil er der Menschheit angehört, die unter dem Sittengesetz stehen kann, d. i. die ein moralisches Ideal hervorbringt, dessen Gesetz allein aus Freiheit, d. i. aus Vernunft entspringt. Nur durch diese transzendentale Bestimmung der Würde ist ‚Mensch’ nicht bloß ein Artbegriff neben anderen, sondern enthält das Moment eines Unbedingten, weil die Menschen nicht nur in der Reproduktion ihrer Art, sondern als Menschheit zugleich moralisch aufeinander bezogen sind.“ (S. 62)

Soll die Freiheit des Menschen ihn nicht bloß im Denken zukommen, so muss er sie in der Welt der Sinnenwesen realisieren. Als freies Wesen kann der Mensch nur vernünftig handeln, wenn er sich als Zweck an sich selbst bestimmt und eine Gesellschaft einrichtet, deren Zweck die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen ist – dies widerspricht aber dem Zweck der kapitalistischen Gesellschaft, der Verwertung des Werts, einer Gesellschaft, die aus ihren Mitgliedern bloße Mittel zu diesem entfremdeten Zweck macht und der die Hirnforscher ideologische Handlangerdienste leisten.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage offen, wie das Verhältnis von Physis/Gehirn einerseits und Bewusstsein/Geist andererseits rational zu begreifen ist. In den letzten Kapiteln ihres Buches geht Christine Zunke von ihrer Position (der materialistischen Dialektik) auf diese Frage ein.

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Aporien des reduktiven Physikalismus und dualistischen Idealismus

Wenn Zunke den falschen, weil reduktiven, Physikalismus der Hirnforschung kritisiert, dann muss sie selbst eine Vorstellung von dem Verhältnis von Denken und Gehirn haben. Der steile Materialismus von Roth behauptet, das Denken habe seine hinreichende Bedingung in der neuronalen Tätigkeit des Gehirns, es sei grundsätzlich naturwissenschaftlich bestimmbar. Wäre dem so, dann wäre auch dieser Gedanke, dass Denken durch die materielle Gehirntätigkeit determiniert sei, eine Hervorbringung des Gehirns – so wie alles Denken (vgl. S. 207). Aus dieser Konstruktion des Bewusstseins folgt: Alles, was wir wissen, denken, vorstellen, konstruieren, anschauen und fühlen ist eine elektrochemische Erzeugung unseres Gehirns – und damit ist alle Wirklichkeit und jede Art Wirklichkeitsbewusstsein bloß in unserem Kopf, durch uns hervorgebracht, bloße Vorstellung und damit Schein. Der strikte Materialismus der modernen Hirnforschung erweist sich als steiler Idealismus, nämlich als Solipsismus.

Außerdem könnte ein derart durch neuronale Prozesse hervorgebrachtes Bewusstsein bzw. seine Vorstellungen nicht als wahr bestimmt werden. Denn ohne Freiheit gegenüber seinem elektrochemischen Determinismus könnte das Bewusstsein das Verhältnis von Vorstellung, Gedanke oder Begriff nicht an der Sache überprüfen und damit als wahr oder unwahr bestimmen, denn diese Überprüfung wäre selbst determiniert. Wir wären ohne Selbstbewusstsein, bloß ein Hampelmann unseres Gehirns und wüssten von uns aus nichts darüber, hätten also auch keine wahre oder falsche Hirnforschung und damit auch keine Determinismusthese.

Muss man eine qualitative Differenz zwischen Bewusstsein und den elektrochemischen Prozessen aufmachen, dann liegt es nahe, das Bewusstsein, den Geist des Menschen als abgesonderte Entität zu hypostasieren, d.h. eigenständig und unabhängig vom Gehirn und seinen gedachten Gegenständen erscheinen zu lassen. Eine frühe Form dieses Idealismus ist Platons Ideenlehre. Als hypostasierte Entität muss der Geist des Menschen aber dennoch auf das Gehirn und damit auf den Körper des Menschen einwirken können. Da aber nur Körperliches auf Körperliches einwirken kann, muss dieses hypostasierte Bewusstsein zugleich materiell sein. Der steile Idealismus eines abgesonderten Geistes, also der Dualismus von Geist und Materie, konsequent zu Ende gedacht, erweist sich als kruder Materialismus. „Denn wird der Geist als Entität hypostasiert, der eigenständig und unabhängig vom Material tätig sei und zugleich auf dieses einwirke, so erhält er eine Wirklichkeit in Zeit und Raum, die ihn der Sache nach selbst zu einem physikalischen Gegenstand macht, der somit nicht etwas qualitativ anderes als das Gehirn wäre.“ (Zunke, S. 208) Jede dualistische Theorie, wenn sie zur Vermittlung von Geist und Körper fortschreitet, was sie muss, will sie einen Bezug zur menschlichen Praxis aufzeigen, verfällt dieser Aporie, als Geist nicht-materiell und abgesondert zu sein und doch zu behaupten, aufs Materielle Einfluss nehmen zu wollen.

Das menschliche Denken kann aber bei den Aporien des physikalischen Materialismus und des steilen Idealismus nicht stehen bleiben. Andererseits wissen wir, dass Freiheit nur durch den Geist und nur im Material wirklich werden kann, wovon die Umgestaltung der Erdoberfläche und jede neue Erfindung genügend anschauliche Beispiele liefert. (Vgl. Zunke, S. 208) Christine Zunke schlägt deshalb folgende Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Materie vor, die sie die „Antinomie von Gehirn und Geist“ nennt und die „konstitutiv für das Menschsein“ sein soll (S. 201).

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Das wahre Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein

Fakt ist, wenn wir denken, finden neuronale Prozesse im Gehirn statt, diese lassen sich mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen und erforschen, da es materielle Prozesse sind. Nun ist das Bewusstsein, die Vorstellung und der begriffliche Gedanke, nicht materiell. So kann das Denken z.B. Zwecke setzen, die es noch gar nicht in der objektiven Realität gibt, ein zunächst bloß Imaginäres kann aber nicht materiell sein. (So ist auch die Naturwissenschaft Bewusstsein und nichts Materielles, ein herunterfallender Stein (materiell)  ist etwas anderes als Gravitation (ein Begriff des Bewusstseins).) Zunke weist mit Kant darauf hin, dass es auch in der biologischen Natur unabhängig vom Menschen Zwecke gibt, teleologische Prozesse, deren Telos z.B. in einem Samenkorn, aus dem dann eine Pflanze wird, wirksam ist, obwohl es als Telos nicht materiell ist und also auch nicht mit den Methoden der Naturwissenschaft erkannt werden kann. „Dieser Zweck kann, wenn man ihn biologistisch fasst, eingeordnet werden als evolutionär zum Zweck der verbesserten Reproduktion entstanden. Diese ‚Erklärung’ des Mentalen geht dann auf den teleologischen Naturzweck, die innere Zweckmäßigkeit, nach der jedes Lebewesen funktional auf sein eigenes Leben und die Fortpflanzung hin geordnet ist. Auch diese Funktion ist ein innerer, ein unmaterieller Zweck, der über dem Material steht als es ordnendes Prinzip.“ (S. 201 f., Anm. 17)

Ebenso hat das begriffliche Denken das Allgemeine zum Gegenstand, jeder aus der Empirie abgeleitete Begriff fasst das Allgemeine an konkreten Gegenständen einer Art, den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – insofern ist er unendlich sowie raum- und zeitlos. Unendliches, Zeitloses und Raumloses kann aber nicht materiell sein. Das menschliche Denken muss deshalb als immateriell gedacht werden, als geistiges Bewusstsein (wobei Geist nichts anderes bedeutet, als dass sich ein individuelles Bewusstsein zu allgemeinen Erkenntnissen hocharbeitet, die auch andere Menschen denken und die dadurch ein kollektives Bewusstsein darstellen, terminologisch als Geist bestimmt).

Wenn man also notwendig Geist annehmen muss und zugleich alle geistigen Tätigkeiten an Gehirnfunktionen, also materielle Prozesse gebunden sind, dann kann man dieses Verhältnis nur als nicht-determinierende Korrelation fassen.
„Denken bezeichnet dagegen keine neuronale Organfunktion (auch wenn ihm solche korrelieren), sondern im weitesten Sinne tätiges Bewusstsein, wie beispielsweise das Begreifen neuronaler Funktionen; es liegt im Denken, Begriffe zu bilden und zu verknüpfen. Damit ist es zum einen auf Erscheinungen verwiesen, die ihm sinnlich gegeben werden und die es begreift, zugleich gehen die Begriffe als Abstraktionen über jede Erscheinung hinaus. Zudem lassen sich Begriffe von nichtsinnlichen Gegenständen bilden, so dass Denken durch Reflexion einen Begriff von sich selbst bilden kann. Den Geist oder das Denken als immateriell zu bezeichnen ist daher nicht falsch, jedoch dann irreführend, wenn suggeriert wird, dass es eine eigenständige Existenz unabhängig vom Material habe. Die Annahme einer geistigen Entität  gegenüber einer von ihr gänzlich abgetrennten materiellen, führt zu den klassischen Fehlern des Zwei-Welten-Dualismus; das Leugnen einer wesentlichen Differenz zwischen Denken und neuronalem Geschehen führt zu den Fehlern des Reduktionismus der Identitätstheorien.“ (Zunke, S. 202)

Diese Auffassung setzt voraus, dass die Korrelation zwischen Denken und Gehirntätigkeit keine eindeutige ist. Wäre die Korrelation zwischen Denken und Gehirntätigkeit eindeutig, dann hätte der reduktive Physikalismus (S. 97) eine gewisse Berechtigung, tatsächlich zeigen die Resultate der Hirnforschung: Ein mentaler Zustand kann grundsätzlich „durch eine unbestimmte Anzahl verschiedener neuronaler Zustände realisierbar“ sein (Zunke, S. 97). Zwar lassen sich bei einfachen psychischen Zuständen wie Angst oder das Sehen von Dingen bestimmte Hirnregionen ausmachen, die dadurch erregt sind. Für komplexe geistige Vorgänge gilt dies aber nicht. Der gleiche Gedanke erzeugt nicht nur bei verschiedenen Menschen an verschiedenen Hirnregionen Cluster (Netz von Erregungszuständen), sondern auch bei ein und denselben Menschen, wenn er zu verschiedenen Zeiten einen gleichen Gedanken denkt, verschiedene Orte, wo sich die Cluster nachweisen lassen.

 Die „Neuropsychologie, welche per definitionem die Schnittstelle zwischen Gehirn und Psyche und damit die Art der Vermittlung von den Analyseebenen der Ersten und Dritten Person zum Gegenstandsbereich haben sollte, zeigt in ihren Ergebnissen deutlich, dass nur der Schluss vom Mentalen auf ein neuronales Korrelat als dessen empirisch erkannte notwendige Bedingung, jedoch nur nachfolgend in Analogie der Schluss von einer spezifischen Materialeigenschaft auf vermutete psychische Phänomene möglich ist. Ein Schluss allein vom neuronalen Material auch nur auf die Existenz irgendeines mentalen Zustandes ist dagegen völlig unmöglich. Denn kein neuronaler Mechanismus kann als hinreichend für einen psychischen Zustand bestimmt werden, weshalb sich die Psyche des Menschen nicht aus seinem Gehirn begreifen lässt, sondern andersherum Funktionszusammenhänge des Gehirns durch den Bezug auf die menschliche Psyche erst als Funktionen erkannt werden können (…)“ (S. 100 f.)

Das bedeutet, Denken korreliert mit Erregungszuständen im Gehirn, insofern gibt es kein Denken ohne Materie, aber diese Korrelation lässt sich – bei komplexen Gedanken – nicht an bestimmten Stellen des Gehirns lokalisieren.
Wenn gilt: Bewusstsein und Gehirn sind notwendig wesensverschieden und zugleich, dass Bewusstsein nicht ohne Materielles (Gehirn, Gegenstände des Bewusstseins) existieren kann, dann bleibt als offene Frage, wie Materielles auf das Bewusstsein wirkt und das Bewusstsein auf Materielles.

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Christiane Zunke hält diesen Zusammenhang grundsätzlich für nicht bestimmbar. Es sei eine Antinomie zwischen Materiellem, das der Naturgesetzlichkeit unterliege, und dem Denken, das als prinzipiell frei bestimmt werden müsse. „Etwas – Geist – geht in etwas anderes – Leiblichkeit – über. Aber dieser Übergang ist ohne jede Vermittlung, er ist unmittelbar. Nach dem Wie zu fragen ist müßig, die Unmöglichkeit einer befriedigenden Antwort ergibt sich aus dem oben dargestellten antinomischen Verhältnis von Ideellem und Materiellem, deren Gegensätzlichkeit unaufhebbar ist, weil sie nur gegeneinander bestimmbar sind (Ideell ist, was kein Material hat, et vice versa).“ (S. 203)

Weiter schreibt Zunke: „Wenn das Gehirn der Naturkausalität unterliegt und die Vernunft sich selbst das Gesetz geben kann, also frei ist, dann ist es unmöglich, dass eine naturwissenschaftlich bestimmte Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist erkannt werden kann, da ersteres kausal determiniert und letzterer frei ist.“ (S. 204, Hervorhebung von uns) Wir sind bisher den Ausführungen von Christine Zunke gefolgt, hier scheint uns jedoch eine kritische Anmerkung nötig. Die Autorin übernimmt Kants Gedanke, das Naturmaterial (als Erscheinung im Bewusstsein) sei „kausal determiniert“. Dies ist aber nicht akzeptabel. Wenn das Material des Denkens und Willens „kausal determiniert“ gedacht wird, dann hätte – abgesehen von allen Vermittlungsauffassungen – der freie Wille keine Möglichkeit, sich im Material zu realisieren, ob nun im Gehirn, z.B. bei einer medizinischen Operation, oder anderswo. Mit Hegel muss dagegen gesagt werden, dass der Zufall notwendig angenommen werden muss. Zunke deutet dies an anderer Stelle auch an (vgl. S. 19). Nur unter der Voraussetzung der Bestimmbarkeit des Materials (vgl. S. 206) kann das Denken sich im Material realisieren, das setzt aber voraus, dass es nicht durchgängig bestimmt ist und ein Moment des Zufalls enthält – nicht aber „kausal determiniert“ gedacht wird. Die Totalität des Naturzusammenhangs ist etwas anderes als die aus ihm isolierten Naturgesetze, nur letztere kann man als determiniert bestimmen, und sie wirken auch nur unter extremen Randbedingungen derart. Nach Zunke lässt sich das Problem lösen durch die Differenz von Erscheinung und Ding an sich (vgl. S. 206), aber diese ist selbst aporetisch (vgl. zuletzt Kuhne: Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte, besonders S. 163 ff.)

Wenn das Material der menschlichen Tätigkeit „bestimmbar“ ist (S. 206),  dann kann es nicht kausal determiniert sein, ist es aber kausal determiniert, dann wäre lediglich das Denken frei, ohne Macht sich zu realisieren, dann könnten einige  Hirnforscher recht haben mit ihrer These, alles sei determiniert. Bei Zunke zeigt sich hier eine unkritische Nähe zur kantischen Philosophie, denn dies sind Widersprüche der kantischen Erkenntnistheorie. Auch ihre Schlussfolgerung ist problematisch: Da wir nur erkennen können, weil wir freie Wesen sind, „die sich selbst Zweck sein können“, folgt nicht zwingend: „und darum auch sein sollen.“ (S. 62) Eine solche Schlussfolgerung verweist lediglich auf ein Ideal, nicht aber auf eine realistische Möglichkeit, jedenfalls solange man nicht angeben kann, dass die soziale Wirklichkeit selbst in diese Richtung drängt – dass dies nicht der Fall ist, darin ist sich Christine Zunke mit der Hirnforschung einig (vgl. das obige Zitat, S.189 unter „Ideologie“), nur dass sie diese Tatsache bedauert und kritisiert, während die Hirnforscher die gesellschaftliche Beschränkung der Willensfreiheit affirmieren und ideologisch als natürliche rechtfertigen.

Abgesehen von diesen Einwänden, die nicht ihre Kritik an der falschen Hirnforschung schmälern, und unter der Voraussetzung der Bestimmbarkeit des Materials menschlicher Tätigkeit (die sie selbst annimmt (S. 206) – entgegen ihrer Formulierung, Materielles sei kausal determiniert), stimmen wir ihrer Schlussfolgerung zu: Der Mensch ist „Einheit von Gehirn und Geist“, ein vernunftbegabtes Sinnenwesen. Für die Willensfreiheit ist  sowohl die Sinnlichkeit wie das Vernünftige und Ideelle konstitutiv. „Die Vorstellung, der Mensch sei auf der einen Seite frei in seiner Vernunft und auf der anderen Seite bedingt in seiner Sinnlichkeit, ist darum grundfalsch. Ein rein aus Vernunft bestimmter Wille wäre als reiner Wille ausschließlich durch den Kategorischen Imperativ bestimmt – und damit ohne möglichen Bezug auf gegebenes Material, das Gegenstand seines Wollens sein könne. Erst indem der Mensch sich seine aus der Sinnlichkeit entspringenden Bedürfnisse als Zwecke setzen kann, hat er die Möglichkeit, anders als rein moralisch, d. i. anders als leer, zu handeln – und damit überhaupt zu handeln.“ (204) Damit dies Handeln nicht durch das verselbständigte Subjekt dieser Gesellschaft, den ökonomischen Mechanismus, auf die entfremdete Freiheit im mehr oder weniger großen Konsum von Waren restringiert wird, daran arbeiten kritische Wissenschaftler wie Christine Zunke.

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Letzte Aktualisierung:  10.09.2009