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4. Die Aufwertung der Körperlichkeit
Der Mensch ist ein Kompositum aus Allgemeinem und Besonderem, Geist und Körper, zum göttlichen (Vernunft) fähiger Seele und dem der Naturverfallenheit preisgegebenen Leib. Im Neuplatonismus zur Zeit Abaelards galt der Primat des Allgemeinen, der Körper als Gefängnis der Seele. Die Seele sollte zum reinen Allgemeinen Gottes streben. Damit sie sich darauf vorbereiten konnte, musste sie sich schon im Diesseits so weit wie möglich vom Körper emanzipieren durch Askese und Kasteiung. Der Leib galt als der Ort der Versuchung, als das Teuflische.
Wird aber, bedingt durch die entstehende städtische Warenwirtschaft, das Besondere aufgewertet, die Raffinesse der körperlichen Genüsse erweitert, der Einzelne mit seinem Wagemut und seinen geschäftlichen Geschick das Entscheidende der neuen Ökonomie, dann kann der Körper nicht einfach mehr verteufelt werden. Für Abaelards Nominalismus ist hauptsächlich das singuläre Ding das ontologische Fundament unserer allgemeinen Gedanken, entsprechend muss er auch eine andere Bewertung des menschlichen Körpers behaupten. „Keine natürliche Fleischeslust darf zum moralischen Fehler gerechnet werden, und es ist nicht als Schuld anzurechnen, daß wir in der Situation (im Geschlechtsakt, B.G.) eine Befriedigung empfinden, in der es, wenn’s einmal soweit ist, unvermeidlich ist, Lust zu verspüren.“ (Ethica, S. 25) So ist für Abaelard der Körper nicht mehr das Böse, sondern das Böse hat keine Substanz (vgl. a.a.O., S. 7). Weder sind die Schwächen des Körpers (Hinken, Blindheit) noch die der Seele moralische Fehler, noch die Taten, die daraus fließen. „Es gibt auch einige schlechte oder gute Verfassungen der Person, die mit den Sitten nichts zu tun haben und die eine menschliche Lebensführung weder tadelnswert noch lobenswert machen wie geistige Dumpfheit oder schnelle Auffassungsgabe, vergesslich sein oder ein gutes Gedächtnis haben, Unwissenheit oder Wissen. Weil alle diese Beispiele bei bösen und guten Menschen gleichermaßen vorkommen können, betreffen sie die Komposition der Sitten überhaupt nicht, und sie machen ein Leben weder schädlich noch ehrenwert.“ (A.a.O., S. 3)

Zwar verleitet uns der Körper oft zu Taten, die falsch sind, aber wenn dies nicht nur lässliche Sünden sind, sondern unverzeihliche, dann ist dies nicht die Schuld des Körpers, sondern die Sünde kommt zustande durch die unmoralische innere Zustimmung. Abaelard verdeutlicht seine neue Auffassung vom Körper vor allen an Beispielen aus der Sexualität. (2) Abaelard zitiert Jesus: „Er nämlich, der sagt: Deinen Begierden lauf nicht hinterher, und wend dich von deinem (verführerischen, B.G.) Willen ab, lehrte uns, unsere Begierden nicht zu befriedigen, nicht, überhaupt keine Begierden zu haben. Das erste ist tadelnswert, das zweite schon wegen unserer Schwachheit unmöglich. Also nicht eine (fremde Ehe-, B.G.) Frau zu begehren, sondern dem Begehren zu zustimmen, ist moralisch falsch, und nicht der Wunsch zum Geschlechtsverkehr, sondern das Einverständnis mit dem Wunsch ist zu verurteilen.“ (A.a.O., S. 17)
Die metaphysische Verteufelung des menschlichen Körpers im Neuplatonismus ersetzt Abaelard durch eine Balance zwischen berechtigter Befriedigung körperlicher Bedürfnisse und der moralischen Kontrolle dieser Bedürfnisse durch die Vernunft und den guten Willen sowie die eingeübte Selbstbeherrschung. „Die Animalität des Menschen ist hiernach nicht, wie in der Tradition, der zu tilgende Makel, nicht das Prinzip der Sünde schlechthin. Sowenig die Universalien eine von den natürlichen Dingen getrennte Existenz beanspruchen können, so wenig ist die Seele als der allein Gottes würdige Teil von der Physis durch Aszese zu trennen. Der Begriff der Seele, den die Ethik Abaelards voraussetzt, bezeichnet nicht mehr eine Substanz, der nur die allgemeinen Wesensmerkmale zukommen. Vielmehr versteht Abaelard die Seele implizit als Form des Körpers, ohne daß er die Aristotelische Seelenlehre schon zur Kenntnis genommen hätte.“ (Mensching: Moralität, S. 427)
Dennoch sind Körper und Seele nicht völlig gleichwertig, das moralische Individuum soll durch Selbstbeherrschung seine körperlichen Bedürfnisse und Impulse, die ebenfalls von Gott geschaffen wurden, unter Kontrolle bringen und sich so durch vernünftige Regelung seiner „Triebökonomie“ (Mensching) als tugendhaft erweisen, wobei auch bei Abaelard das Zurückdrängen der körperlichen Bedürfnisse höherwertig ist gegenüber der moralisch legitimierten Befriedigung, wenn die Askese die Hinwendung der Seele zum Geistigen fördert. Abaelard verdeutlicht dies an der Ehe: Ein Ehepaar, das „ganz auf Geschlechtsverkehr verzichten“ will, hängt einer „vollkommeneren Lebensführung“ an als die „gemütliche“ ohne sexuelle Enthaltsamkeit – mit der aber Nachsicht im außermoralischen Sinne zu üben ist. „Demnach hat der Apostel an dieser Stelle die Nachsicht nicht als eine Vergebung der Sünde verstanden, sondern als Zugeständnis zu einer lockeren Lebensführung zur Vermeidung der Unzucht; somit verhindere ein weniger perfektes Leben einen großen moralischen Fehler und es sei an Verdiensten geringer, aber in bezug auf die Verfehlungen werde es nicht größer.“ (Ethica, S. 29) Im Übrigen würde die Menschheit ohne die gemütlichere und lockere Lebensweise der ehelichen Lust aussterben.
Allgemein gilt, das die Güte des Herrn es nicht erlaubt, dass die Menschen „über ihre Kraft hinaus versucht werden“ (a.a.O., S. 165). Unsere natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen ist also weder moralisch noch unmoralisch, wenn dies in der richtigen Weise erfolgt. Ansonsten ist die Tugend der Selbstbeherrschung gefragt, um unsere Triebökonomie zu regeln.
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